Birmingham und die 100 Millionen Pfund Kosten für eine Migration von SAP zu Oracle Fusion

In der britischen Stadt Birmingham ist ein Migrationsprojekt, weg von SAP, hin zu einer ERP-Lösung von Oracle, kräftig in die Hose gegangen. Das Projekt kommt nicht "aus den Puschen", und die Stadtväter müssen 100 Millionen britische Pfund (115 Millionen Euro) in die Hand nehmen, um das Oracle-Projekt irgendwie zum Laufen zu bringen.


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Oracle ist ja für seinen Lizenzdschungel bekannt. Amazon hatte über Jahre ein Programm aufgelegt, um weg von Oracle zu kommen und hat das 2019 geschafft (siehe Amazon ist 'Oracle-Datenbank-freie' Zone). Bei ERP-Systemen lässt sich die Datenbank ggf. gegen ein Produkt eines anderen Herstellers austauschen. In diesem Kommentar zu meinem Artikel Windows Server 2022: Microsoft lockert etwas die Lizenzierungsregeln hatte jemand von einem Wechsel weg von Oracle-Datenbanken, hin zu Microsofts SQL-Server, für deren ERP-System berichtet. Ob aber dieser Wechsel immer klug ist, weiß ich nicht – ich erinnere mich an den Artikel Am Lizenzhaken: 3 fach höhere Lizenzkosten für MS SQL-Server, User-basierende Oracle Java SE-Lizenzen von Anfang diesen Jahres, wo sich die Kosten drastisch verteuert haben.

Desaster in Birmingham

Das oben geschilderte ist aber wohl nichts gegen das, was die Stadt Birmingham erlebte. Die Geschichte fiel mir ein, als ich diesen aktuellen Kommentar hier im Blog zum Thema Migration einer on-premise Oracle-Datenbank in die Cloud las. Die Birmingham Mail hat es in diesem Artikel aufgegriffen – ich bin über diesen The Register-Artikel drauf gestoßen. In Birmingham geht es wohl nicht nur um schnöde Lizenzkosten, sondern man hat irgendwie ein komplettes System "Oracle Fusion" gekauft,

Bekannt wurde das Desaster durch ein Interview des neu ernannten Ratsvorsitzenden John Cotton von Birmingham mit der regionalen Nachrichtenagentur Birmingham Mail. Es gibt wohl riesige Probleme mit dem neuen Oracle Software-System zur Verwaltung von Personal- und Finanzfunktionen. Zum Hintergrund: Im Jahr 2018 fiel in der Stadtverwaltung Birmingham der Beschluss zur Ablösung der SAP-Lösung für zentrale Personal- und Finanzfunktionen. Birminham hatte sich zur Migration auf Oracle Fusion entschieden – 2021 erwähnte der Gründer und CTO von Oracle, Larry Ellison, dass der Stadtrat von Birmingham einer von mehreren erfolgreichen Abschlüssen bei der Migration sehr großer SAP-ERP-Kunden auf Oracle Fusion sei.

Problem ist aber wohl, dass diese Migration nicht fertig wird bzw. nicht richtig funktioniert und sich zu einem Fass ohne Boden entwickelt. Das ERP-Projekt wurde bereits 2019, 2020 und erneut 2021 überprüft, als die Gesamtkosten für die Implementierung des Projekts auf 38,7 Mio. £ (47,8 Mio. $) geschätzt wurden, "eine Verdoppelung der Kosten", sagte Robert Alden, Vorsitzender der Konservativen, dem Rat im April.


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Nun scheint man eine weitere Schippe drauf legen zu müssen. Der neue Ratsvorsitzende John Cotton von Birmingham sagte der Birmingham Mail: "Meine Priorität bei meinem Amtsantritt war es, sofort herauszufinden, wo wir mit den Problemen rund um Oracle stehen, was das Problem ist und wie wir es lösen werden." Die Antwort auf solche rhetorischen Fragen lautet eigentlich immer "Viel Geld ist die Lösung".

Vervierfachung der Kosten befürchtet

Der Stadtrat von Birmingham wird bis zu 100 Millionen Pfund für sein Oracle-ERP-System bezahlen müssen, in der Hoffnung, dass es irgendwann funktioniert. Das könnte auf eine Vervierfachung der ursprünglich geschätzten Ausgaben hinauslaufen. Das Projekt leidet unter Verzögerungen, Kostenüberschreitungen und mangelnden Kontrollen.

In einer Erklärung an The Register sagte ein Sprecher der Stadtverwaltung, dass die Stadtverwaltung einen Plan entwickelt habe, der sich darauf konzentriere, "zunächst die Situation zu stabilisieren und dann die Implementierung von Oracle zu optimieren". "Es werden beträchtliche Ressourcen erforderlich sein, um das System vollständig zu implementieren. Wir schätzen, dass sich die endgültigen Kosten in einer Größenordnung von 80 bis 100 Millionen Pfund [99 bis 123 Millionen Dollar] bewegen werden. Dies wird sich über drei Jahre hinziehen", wird der Sprecher zitiert. Das Projekt, das den Namen Financial and People trägt, sei "für eine Organisation von der Größe des Birmingham City Councils von entscheidender Bedeutung", so der Sprecher.

Der neue Ratsvorsitzende Cotton meint, dass die Probleme mit dem ERP-Projekt keine direkte Auswirkung auf die Dienstleistungen der Stadt hätten, oder darauf, ob die Stadtverwaltung ihre Rechnungen bezahlt und ihren Unterhalt bestreitet. Zur Einordnung: Birmingham ist gemessen an der Einwohnerzahl die größte Kommunalbehörde Europas. Die Stadtverwaltung hat jährliche Einnahmen in Höhe von 3,4 Milliarden Pfund und viele Zahlungen sind seit 2018 mit dem Projektstart zur Ablösung von SAP für zentrale Personal- und Finanzfunktionen gezahlt worden. Cotton wird so zitiert: "Aber wir wissen, dass es ein Problem damit gibt, wie das System unsere Finanztransaktionen und auch die Personaltransaktionen verfolgt. Das muss behoben werden."

Klingt mir ein wenig nach "pfeifen im Wald" und irgendwie fällt mir München mit seinem LiMux-Projekt samt Wechsel zu Microsoft ein – ich weiß nicht warum. Ein Insider hat The Register gesteckt, dass Oracle Fusion, das Cloud-basierte ERP-System, auf das die Stadtverwaltung umsteigt, "kein Produkt ist, das für lokale Behörden geeignet ist, weil es sehr stark auf eine Produktions-/Handelsorganisation ausgerichtet ist." Es gibt ein zweites großes Oracle Migrationsprojekt in Großbritannien, welches Larry Ellison erwähnte: West Sussex County Council. Aber dieses Migrations-Projekt ist wohl auch verzögert und irgendwie aus dem Ruder gelaufen.


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9 Antworten zu Birmingham und die 100 Millionen Pfund Kosten für eine Migration von SAP zu Oracle Fusion

  1. Heiko sagt:

    Das schaut nach einem echten Klassiker aus: Die Probleme wurden vermutlich schon im Projektmanagement gemacht.

    Mir persönlich ist bisweilen kein einziges ERP-System unter die Augen gekommen, dass speziell für die Bedürfnisse der öffentlichen Verwaltung entwickelt wurde. Zwar werben einzelne Anbieter wie etwa Infor für derartige Lösungen, aber was sie häufig eint, ist die gruselige Benutzerführung. Partizipatives Design ist vielen Softwareherstellern ein Fremdwort. Wobei: Diverse Softwarehersteller und öffentliche Verwaltungen wären eigentlich beste Partner, wenn es um schlechte Designs geht. ;)

    Entwickler/-innen ticken ohnehin anders als die tatsächlichen Nutzer/-innen. Und so passiert das, was ich aus der Praxis reichlich kenne: Es wird gekauft, was irgendwie "branchentypisch" ist oder man möchte aufgrund schlechter Erfahrungen (z. B. Kundensupport, Kostenentwicklung, Entwicklung der Software, …) einfach nur weg.

    Mich wundert es aber überhaupt nicht, dass Sage leer ausging. Die ERP-Lösungen des Unternehmens sind so "na ja", die "Sage HR Suite" bietet einen Flashback aus den frühen 2000er Jahren und "Sage HR" selbst ist zu klein, wenn es im letzteren Fall um die Personalwirtschaft geht.

    Eine falsche Anbieterauswahl habe ich schon in diversen Projekten gesehen.

    "Mache die Dinge so einfach wie möglich, aber nicht einfacher." (Albert Einstein)

    • Michael sagt:

      Ich spreche dann mal aus Erfahrung als Entwickler für eine ERP-Software:
      Das Ganze klingt nach einem weiteren Fall von Standard-Software vs. Kundenprozesse. Letztendlich ist es wohl meistens egal, für welche Software man sich entscheidet. Die Frage ist vielmehr: Sind die Anwender bereit, sich auf eine anders tickende Standardsoftware einzulassen? Meist ist genau das nicht der Fall und es muss das Standardsystem so verbogen werden, dass es auch zum unsinnigsten Fachprozess passt, anstatt den Fachprozess zu überdenken und in das neue Standardsystem zu integrieren.

      Wenn ich mich recht entsinne, gab es einen solchen Fall auch bei Hariob mal…

      • Heiko sagt:

        Natürlich gehört die Veränderungsbereitschaft bei der Einführung neuer Anwendungen dazu. Prozessmanagement existiert in vielen Unternehmen jedoch nicht. Das sind gewachsene "Strukturen" und entsprechend Abläufe, deren Effizienz nicht untersucht wird. Das kostet halt Zeit und logischerweise auch Geld.

        Man kann sich diesbezüglich den Mund fusselig reden. Man muss das Prozessmanagement heutzutage aber als Teil des Qualitätsmanagements (QM) verstehen, da man Qualität nicht ohne effiziente Prozesse gewährleisten kann. Zumindest dann nicht, wenn man hohe Ansprüche äußert und gegenüber den Kunden verspricht.

  2. Sebastian sagt:

    Na da sind die versenkten 60 Mio € von der Arbeitsagentur für "Robaso" ja noch ganz günstig.

  3. Bernd sagt:

    Oracle? Bei der Lizenzpolitik – nein danke.

  4. Michael sagt:

    auch lustige Zeit bei einem früheren Arbeitgeber: Oracle JD Edwards ERP eingekauft, und festgestellt, dass das Ding mit Barverkauf überhaupt gar nicht umgehen konnte, und das Modul war bis zum GoLive immer noch nicht wirklich produktiv einsetzbar trotz jahrelanger Entwicklung (gut war nicht das Einzige, was da angepasst werden musste)

  5. Dominik sagt:

    Hallo Günther,
    ich hatte dir gestern eine Mail gesendet mit der Bitte um Veröffentlichung der neuen Phishing Methode per Screenshot. Ist die Mail angekommen?

    viele Grüße :-)

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