Erklärung für Tragödie am Djatlow-Pass im Jahr 1959

In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1959 starben neun Skiwanderer auf bisher ungeklärte und mysteriöse Weise am östlichen Hang des Berges Cholat Sjachl (mansisch für Berg des Todes; 1097 m) im nördlichen Ural (Sowjetunion). Die Stelle wird seit dieser Zeit nach einem der Toten als Djatlow-Pass bezeichnet. Ein Lawinenforscher glaubt eine Erklärung für die Tragödie am Djatlow-Pass, liefern zu können, die sich im Jahr 1959 ereignet hat. Vermutlich wurde eine Gruppe Skiwanderer von einer Lawine in ihren Zelten überrascht, was dann zur Katastrophe führt.


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Die Tragödie am Djatlow-Pass im Jahr 1959

Ende Januar 1959 brach eine aus acht Männern und zwei Frauen bestehende Skiwandergruppe zu einer Tour in den Ural (Sowjetunion) auf. Skitour wurde vom Sportverein des Polytechnischen Instituts (UPI) des Urals veranstaltet und sollte 16 Tage dauern. Geplant war, dass von den Teilnehmern mindestens 350 km auf Skiern auf der geplanten Route durch das Gebirge des nördlichen Urals zurückgelegt werden sollte. Dabei sollten die Berge Otorten (russ. Отортен, Höhe: 1235 m, etwa 13,6 km Luftlinie vom Unglücksort entfernt) und Ojko-Tschakur bewältigt werden. Alle Teilnehmer galten als erfahrene Wanderer und kannten sich, mit Ausnahme von Semjon Solotarew, bereits seit mehreren Jahren.

Als die Gruppe sich nicht zum verabredeten Zeitpunkt zurückmeldete, wurde am 20. Februar 1959 beschlossen eine Suchaktion einzuleiten. Am 26. Februar fanden die Suchtrupps das verlassene Lager am Cholat Sjachl. Das Zelt war intakt, aber leicht eingeschneit und wies Einschnitte auf. Einige Teilnehmer der Expedition wurden dann in der Umgebung des Lagers erfroren aufgefunden. Weitere Tote, die erst später gefunden wurden, wiesen schwerste Verletzungen auf. Laut Gerichtsmediziner seien die Verletzungen nicht durch Menschenhand erzeugt worden, „weil die Kraft der Stöße zu stark war und keine Weichteile verletzt wurden". Die Kraft, die dafür nötig war, verglich ein Experte mit der eines Autounfalls. Zwei Mitgliedern fehlten die Augäpfel. Ludmilla Dubinina fehlten Teile ihres Gesichtsschädels sowie Zunge (vom Zungengrund an) und Lippen, da sie unter der Eisdecke mit dem Gesicht in einem Fluss lag. Weitere Details hatte ich im Blog-Beitrag Vor 60 Jahren: Die Tragödie am Djatlow-Pass zusammen getragen.

War es eine Schneelawine?

Im Rahmen einer neuen Studie fanden Forscher der EPFL und der ETH Zürich eine mögliche Erklärung für das sogenannte Unglück am Djatlow-​Pass, bei dem 1959 im Uralgebirge neun Ski-​Wanderer unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Als EPFL-​Professor Johan Gaume Anfang Oktober 2019 einen Anruf einer Journalistin der New York Times erhielt, ahnte nicht, dass er bald tief in eines der grössten Rätsel in der Geschichte der Sowjetunion eintauchen würde. Die Journalistin der New York Times bat ihn um seine fachliche Meinung zu der Tragödie am Djatlow-Pass im Jahr 1959. Gaume ist Leiter des Labors für Schnee-​ und Lawinensimulation (Snow and Avalanche Simulation Laboratory, SLAB) der EPFL und Gastwissenschafter am WSL-​Institut für Schnee-​ und Lawinenforschung SLF.

Gaume sagte dazu: «Ich bat die Journalistin, mich am nächsten Tag nochmals anzurufen, damit ich mich informieren konnte. Was ich dabei erfuhr, fand ich äusserst spannend. Gleich nach dem Anruf der New York Times kritzelte ich eine Reihe Gleichungen und Zahlen an die Tafel, um aus rein mechanischer Sicht den möglichen Ablauf der Ereignisse zu skizzieren. Bei unserem nächsten Telefonat sagte ich der Journalistin, dass wahrscheinlich eine Lawine die Schlafenden im Zelt überrascht hat.»

Diese von allen am plausibelsten erscheinende Theorie vertritt auch die russische Generalstaatsanwaltschaft, die auf Bitte der Hinterbliebenen im Jahr 2019 die Ermittlungen wieder aufgenommen hatte. Angesichts der dürftigen Beweislage sowie einiger seltsamer Gegebenheiten bleiben viele Russen allerdings skeptisch. «Die Geschichte interessierte mich ungemein. Ich beschäftigte mich eingehender mit dieser Theorie und kontaktierte schliesslich Alexander Puzrin, Professor und stellvertretender Leiter des Instituts für Geotechnik der ETH Zürich, den ich einen Monat zuvor bei einer Konferenz in Frankreich kennengelernt hatte.»

Gemeinsam durchkämmten der gebürtige Franzose Gaume und der russischstämmige Puzrin die Archive, die der Öffentlichkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglich gemacht worden waren. Daneben sprachen sie mit anderen Wissenschaftlern und Experten des Falls und entwickelten ein analytisches sowie ein numerisches Modell zur Rekonstruktion der Lawine, der die Expeditionsteilnehmer zum Opfer gefallen sein könnten.

«Das Rätsel vom Djatlow-​Pass gehört heute zur russischen Folklore. Als ich meiner Frau erzählte, woran ich arbeite, war sie zutiefst beeindruckt», sagt Puzrin. «Das Projekt hat mich sehr gereizt, da ich zwei Jahre zuvor mit der Arbeit an Schneebrettlawinen begonnen hatte. Mein Hauptforschungsgebiet sind Erdrutsche. Ich untersuche, was genau passiert, wenn es zu Zeitverzögerungen zwischen dem Auslöser und dem tatsächlichen Abgang eines Erdrutsches kommt.» Gaume und Puzrin sind der Meinung, dass die Gruppe für ihr Zelt in der Schneedecke des Hangs eine Grube aushob. Die Lawine selbst ging aber erst viele Stunden später ab.


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«Einer der Hauptgründe, warum die Lawinentheorie immer noch keine breite Anerkennung findet, ist, dass die Behörden den genauen Ablauf nicht erklären konnten», sagt Gaume. Tatsächlich spricht auch einiges gegen diese Theorie. So fand der Suchtrupp weder eindeutige Beweise für eine Lawine noch deren Ablagerung, und mit weniger als 30 Grad ist die durchschnittliche Hangneigung oberhalb des Lagers nicht steil genug für eine Lawine. Wenn es eine Lawine gegeben hat, dann ging diese ausserdem mindestens neun Stunden nach dem Anlegen des Zeltplatzes ab. Und schliesslich sind die an einigen Leichen gefundenen Brust-​ und Schädelverletzungen nicht typisch für eine Lawine. In ihrer Studie, die am 28. Januar in der Fachzeitschrift Communications Earth & Environment von Nature Research veröffentlicht wurde, greifen Gaume und Puzrin diese Punkte auf.

Darstellung des in den Hang unterhalb einer kleinen Bergschulter geschnittenen ebenen Zeltplatzes mit der vom Wind verfrachteten Schneeablagerung oberhalb des Zelts (Bild: Gaume/Puzrin)

«Mithilfe von Daten zur Reibung zwischen Schneeschichten und der lokalen Topografie wollen wir beweisen, dass eine kleine Schneebrettlawine auf einem flacheren Hang abgehen könnte, ohne grosse Spuren zu hinterlassen. Anhand von Computersimulationen zeigen wir, dass eine Schneebrettlawine ähnliche Verletzungen wie die hervorrufen kann, die an einigen der Toten gefunden wurden. Dann gibt es natürlich noch die Zeitdifferenz zwischen dem Anschnitt des Hangs und dem Abgang der Lawine. Das ist das Hauptaugenmerk unseres Artikels. Die früheren Ermittlungen konnten nicht erklären, wie mitten in der Nacht eine Lawine ausgelöst werden kann, wenn es am Abend davor nicht geschneit hat. Wir brauchten eine neue Theorie, die genau das erklärt», berichtet Gaume.

Einer der wichtigsten Faktoren in der Nacht der Tragödie waren katabatische Winde – kalte Luft, die unter dem Einfluss der Schwerkraft hangabwärts weht. Diese Winde könnten Schnee verfrachtet haben, der sich dann aufgrund eines bestimmten Geländemerkmals, das der Gruppe nicht aufgefallen war, oberhalb des Zelts ansammelte. «Hätten sie den Hang nicht angeschnitten, wäre nichts passiert. Das war der Initialauslöser, hätte allein aber nicht ausgereicht. Wahrscheinlich verfrachteten die katabatischen Winde den Schnee, der sich langsam aufhäufte. Irgendwann bildete sich dann möglicherweise ein Riss und breitete sich aus. Und am Ende ging ein Schneebrett ab», erläutert Puzrin.

Simulation einer Schneebrettlawine und ihrer Auswirkungen auf den menschlichen Körper 
Simulation der Dynamik einer Schneebrettlawine und ihrer Auswirkungen auf den menschlichen Körper (Bild: Gaume/Puzrin)

Beide Forscher sind aber vorsichtig mit ihren Erkenntnissen und betonen, dass dieses Unglück in weiten Teilen ein Rätsel bleibt. «Tatsache ist, dass niemand wirklich weiss, was in dieser Nacht geschah. Aber wir haben starke quantitative Beweise, die die Lawinentheorie untermauern», fährt Puzrin fort. Für die Studie wurden zwei Modelle entwickelt: ein numerisches Modell der ETH Zürich, mit dem die zum Auslösen einer Lawine nötige Zeit kalkuliert wurde, und ein Modell des SLAB, das die Auswirkungen von Lawinen auf den menschlichen Körper untersuchte. Beide werden nun dafür eingesetzt, mehr über Lawinen und die damit verbundenen Risiken zu erfahren. Mit ihrer Arbeit zollen Gaume und Puzrin der Gruppe vom Djatlow-​Pass Tribut, die einer «massiven Naturgewalt» ausgesetzt war und, obwohl sie ihre gefährliche Expedition nicht beenden konnte, Generationen von Wissenschaftlern ein höchst mysteriöses Rätsel aufgegeben hat.

Quelle: Mitteilung der ETH Zürich


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