Es vergeht aktuell kein Tag, wo nicht neue Entwicklungen bei Twitter oder über Twitter die Runde machen. Elon Musk hat vor, deaktivierte Twitter-Konten im Rahmen einer "Amnestie" wieder zu reaktivieren – so, als wäre nichts gewesen. Es gibt Berichte, dass Software-Entwicklern gekündigt wurde, weil deren Code den "Standards nicht entspreche", andere hätten eine Verwarnung erhalten. In Brüssel wurde das Twitter-Büro geschlossen, welches zu Konflikten mit der EU führen könnte. Und bezüglich der gestrigen Verhandlung der Klage gegen Twitter in Frankfurt gibt es erste Verlautbarungen des klagenden Anwalts Jun.
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Neue Kündigungen und Verwarnungen
Gerade hieß es noch von Elon Musk, dass die Zeit der Massenkündigungen vorbei sei und man sogar wieder Mitarbeiter für Twitter suche. Am Wochenende hatte ich aber auf Twitter Meldungen vernommen, dass (u.a. Musk) sich bei Twitter-Mitarbeitern für "Code-Audits" angesagt habe. Nun schreibt Zoë Schiffer von Platformer, dass ca. 50 Software-Entwickler eine Kündigung per Mail erhalten hätte, weil deren Code nicht zufriedenstellend sei.
Andere Mitarbeiter in der Entwicklung wurden wohl in einer unsignierten E-Mail mit nachfolgendem Text verwarnt, dass der Job wackelt.
the purpose of this written performance warning is to bring to your attention our concerns regarding the quality of your coding ability, & to define for you the seriousness of the situation so that you may take immediate corrective action. /1
Note that not meeting expectations could result in your termination of employment…please use this opportunity to restore our confidence and demonstrate your contributions to the team and company. 2/
Da herrscht wohl ein "rauhes Klima" in den Büros von Twitter -was mich wundert, ist der Umstand, dass sich trotzdem Leute immer noch dafür zu entscheiden, bei einem solchen Arbeitgeber zu bleiben oder sogar dort neu anzufangen. Ob dieser Ansatz gut ist, oder eher die Funktionalität der Plattform befördert, wird sich zeigen. Für Personen, die mit einem Arbeitsvisa in den USA sind, dürfte Twitter aktuell kein Wunsch-Arbeitgeber mehr sein.
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Musk will gesperrte Konten reaktivieren
Ich hatte ja kürzlich berichtet, dass Elon Musk auf Twitter abstimmen lasse, ob er eine "Amnestie" für gesperrte Twitter-Konten umsetzen und diese ggf. reaktivieren solle. Nun berichten US-Medien, dass der Beschluss der Reaktivierung deaktivierter Twitter-Konten durch Musk gefallen sei.
The Verge hat es in diesem Artikel (siehe obiger Screenshot) kurz zusammengefasst:
Twitter-CEO Elon Musk hat beschlossen, ab nächster Woche eine "Generalamnestie" für gesperrte [Twitter-]Konten anzubieten – eine sanftere Art zu sagen, dass er beschlossen hat, einige der schlimmsten und toxischsten Personen [des Internet] auf der Website [Twitter] wieder aufzunehmen.
Hier scheint Musk einen "ich probiere es mal"-Ansatz durchzuziehen und führt "Umfrageergebnisse auf Twitter" für seine Entscheidungen an. Das befördert zwar die Kontroverse, ich bezweifele, ob dies unternehmerisch klug ist. Werbekunden werden sich sehr genau anschauen, ob diese Plattform für Auftritte relevant ist. Und genau dieser Zwiespalt führt ja dazu, dass Twitter seit der Übernahme massive Verluste einfährt.
Twitter-Büro in Brüssel geschlossen
Es ist nur eine kleine Fußnote, die aber ein massives Problem für Twitter ergeben dürfte. Die Finanzial Times berichtet hier, dass das Twitter-Büro in Brüssel geschlossen worden sei. Die für die Digitalpolitik von Twitter in Europa verantwortlichen Manager, Julia Mozer und Dario La Nasa, haben laut diversen Quellen das Unternehmen letzte Woche verlassen. Beide Personen waren in leitender Stellung damit befasst, den Desinformationskodex der EU und den Digital Services Act der EU einzuhalten. Der Digital Service Act war ja gerade erst in Kraft getreten und schreibt neue Regeln dafür vor, wie Big Tech die Nutzer online schützen sollte.
Es heißt im FT-Artikel, dass weitere Twitter-Führungskräfte, die aus dem Brüsseler Büro Kontakte zu europäischen Politikern hielten, bereits Anfang November 2022 im Rahmen der Massenentlassung gekündigt wurden. Damit ist das Brüsseler Twitter-Büro faktisch aufgelöst, was bei den EU-Verantwortlichen Bedenken auslöste, ob Twitter die neuen Regeln der EU zur Überwachung von Online-Inhalten einhalten wird bzw. kann. Da bahnt sich also der nächste Konflikt an.
Neues von der Klage in Frankfurt
Ich hatte ja im Blog-Beitrag Anwalt Jun zerrt Twitter Donnerstag, den 24. Nov. 2022, vor deutsches Gericht berichtet, dass der Würzburger Medienanwalt Jun Twitter im Auftrag eines Mandanten vor einem Gericht in Frankfurt auf Löschung bestimmter Tweets verklagt. Am gestrigen 24. Nov. 2022 fand die Anhörung in Frankfurt statt. Ich hatte erste Stellungnahmen von Jun, abgegeben nach der mündlichen Verhandlung im Kommentar hier eingestellt. Hier einige Kernaussagen, die Jun im Rahmen der Verhandlung erkannt haben will:
1. Rechtswidrige Inhalte sind zu unterlassen und nicht nur zu beseitigen.
2. @BlumeEvolution darf nicht ohne Weiteres als Antisemit bezeichnet werden.
3. Twitter muss auch kerngleiche Inhalte aufspüren. Technische Anforderungen werden im Bestrafungsverfahren geprüft.
4. Accountsperrungen ersetzen keine Unterlassungserklärung, da Twitter zeigt, dass permanente Sperrungen nicht final sind.
Es sind Äußerungen des klagenden Rechtsanwalts – der inzwischen nachfolgende Aussagen auf Twitter nachgeschoben hat.
Jun verlinkt in einem Tweet auf diesen aktuellen Artikel der Welt, die den Sachverhalt nochmals aufbereiten und einordnen. Die Notwendigkeit zur Aussetzung von §3a durch "Hängeentscheid" gegenüber Twitter (siehe Hat das Bundesjustizministerium einen Deal mit Twitter zum NetzDG gemacht?) durch das Bundesjustizministerium wird bezweifelt. Im Welt-Beitrag wird ein hohes Risiko für Elon Musk gesehen, im Verfahren zu scheitern – auch wegen der aktuellen Entscheidungen zur Kontenreaktivierung und wegen der Ausdünnung der Personaldecke, so dass das Unternehmen den gesetzlichen Anforderungen nicht nachkommen kann.
Die Urteilsverkündung ist am 14.12.2022, 10 Uhr. Interessante Fußnote am Rand: Der Twitter Anwalt wurde nur vorläufig zugelassen, weil die per Eilbote vorgelegte Vollmacht ein falsches Datum trug. Auch da scheinen sich die Personalengpässe bemerkbar zu machen und die Anwälte beklagen, "auf schwierigem Posten zu stehen und alle Klagen von Twitter zu verlieren".
Gibt es einen Deal?
Der Rechtsanwalt Chan-jo Jun wundert sich seit Monaten, warum es keine Bußgelder gegen Twitter wegen NetzDG-Versäumnissen gibt. Twitter hat kein Gegenvorstellungsverfahren einrichtet, obwohl das VG Köln dieses (anders als die Anzeigepflicht) nicht beanstandet hatte.
Hintergrund ist, dass die gemeinnützige Organisation HateAid beim Bundesamt für Justiz eine Beschwerde gegen Twitter eingereicht hat. Twitter habe es angeblich versäumt, ihren internen Beschwerdemechanismus entsprechend den Vorgaben des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zu veröffentlichen.
Im Rahmen einer Verhandlung im Verfahren Michael Blume gegen Twitter wurden zwischen den Anwälten verschiedene Schriftsätze im Vorfeld ausgetauscht, die in die Verhandlung einbezogen werden. In einem Schriftstück wird behauptet, dass die Bundesrepublik Deutschland Twitter International zugesichert habe, dass das Bundesamt für Justiz bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung vor dem Verwaltungsgericht keine Maßnahmen gegenüber Twitter International anordnen werde. Das Fazit der Twitter-Anwälte: Twitter International träfen keine Verpflichtungen aus § 3a und 3b NetzDG, die Vorschriften seien nicht anwendbar. Twitter International hat die betreffenden Vorschriften vor dem Verwaltungsgericht Köln angegriffen. Weitere Details lassen sich im separaten Artikel Hat das Bundesjustizministerium einen Deal mit Twitter zum NetzDG gemacht? nachlesen.
Erläuterung: Das Gegenvorstellungsverfahren soll es ermöglichen, Entscheidungen über eine Löschung oder Nicht-Löschung von Inhalten zu überprüfen und gegen den Nutzern zu begründen. Genau dieser Mechanismus soll nun aber für Twitter International nicht gelten bzw. nicht anwendbar sein – die Bundesrepublik habe dies so zugesichert.
Kurzes Fazit: Ratlosigkeit
Wenn ich die Entwicklung so verfolge, verstehe ich Elon Musk aus unternehmerischer Sicht nicht wirklich. Inzwischen hat er Twitter mit seinen Entscheidungen in eine (zumindest aus meiner Sicht) recht problematische Position geführt und das Unternehmen muss sich auf sehr viele Schwierigkeiten und Gegenwind einstellen.
Die EU wird mit Sicherheit nicht vor Twitter in Bezug auf den Digital Services Act einknicken, sondern das über Bußgelder notfalls durchsetzen. Twitter könnte sich aus der EU zurückziehen, muss dann aber auf einen großen Markt (in der EU leben 447,7 Millionen Menschen) verzichten.
Und auch in den USA wird Twitter möglicherweise Gegenwind von einzelnen Bundesstaaten und dem Justizministerium bekommen. Auch Indien hat einen "Beschwerdebeauftragten" bei Twitter – wenn die Position unbesetzt ist, droht auch dort Ärger. Die Beispiele lassen sich sicher fortsetzen.
Die Methode Musk, die zeitweise bei Tesla und SpaceX funktioniert hat oder zu funktionieren scheint, könnte bei Twitter nach hinten los gehen. Und auch bei Tesla deuten sich einige (juristische) Probleme nach diversen Unfällen mit selbstfahrenden Fahrzeugen an. Zudem hatte Twitter im August 2022 einen Datenschutzvorfall. Alles keine sonderlich positiven Nachrichten.
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Eines kann man TWITTER aber nicht abschreiben: Es wird über sie vermehrt (auch in diesem eigentlich eher technikbasierten Blog) berichtet!