Wie Jimmy Carter (US-Präsident) Ottawa nach einem Atomunfall rettete

Im Jahr 1952 kam es zu einem schweren Reaktorunfall in den Chalk River Laboratories,  das ist eine kanadische Kernforschungsanlage in Deep River bei Chalk River, etwa 180 km nordwestlich von Ottawa. Im Jahr 1958 gab es den nächsten Unfall in der Anlage. Beim Vorgang im Jahr 1952 war der spätere US-Präsident Jimmy Carter mit der Beseitigung der Schäden dieses Unfalls betraut, wie ich die Tage mitbekommen habe.


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Es war ein Tweet, der meine Aufmerksamkeit weckte. Denn ich dachte, das Gesicht kennst Du doch irgendwo her – und der Name Jimmy Carter sagte mir auch etwas – es war ein US-Präsident, der in den Medien als "Erdnuss-Farmer" tituliert wurde. Insbesondere die Zuschreibung der Deutschen Presse, dass Carter ein "Erdnuss-Farmer" sei, zeichnete ein entsprechendes Bild des US-Präsidenten.

Aber Carter war viel mehr. Ab 1942 besuchte er das Georgia Institute of Technology und trat 1943 in die United States Naval Academy in Annapolis ein. Zu Beginn seiner Dienstzeit bei der US-Marine war Carter auf der USS Wyoming (BB-32) stationiert, einem Testschiff für Bordelektronik. Nach dessen Außerdienststellung 1947 wurde er mit seinen Kameraden auf das Schlachtschiff USS Mississippi (BB-41) versetzt. Von Ende 1948 bis 1951 war er auf dem U-Boot USS Pomfret (SS-391). Bis Ende 1952 durchlief Carter mehrere Offiziersposten auf der USS Barracuda (SSK-1) und wurde dann von Hyman Rickover zur Atom-U-Boot-Flotte geholt.

Er begann ein Studium der Kernphysik und des Ingenieurwesens am Union College im Staat New York und sollte auf der USS Seawolf (SSN-575) dienen. Nach dem Tod seines Vaters am 22. Juli 1953 verließ er die Marine, um die familieneigenen Erdnuss- und Baumwollplantagen sowie Lagerhäuser zu übernehmen. Der Mann war also nicht nur Erdnuss-Farmer, sondern Ingenieur und Kerntechniker und später US-Präsident.

Da gibt es schon einige Berührungspunkte mit mir. Ich wurde zwar nie Landwirt, und habe den Hof meiner Eltern nicht übernommen, sondern 2016 abgewickelt und verkauft – aber wir hatte ja auch keine Erdnüsse zum Anbau. Im Studium habe ich von 1976 bis 1979 auch Kerntechnik belegt, hatte mich aber für Physikalische Technik und aus Umweltschutzgründen gegen das Studienfach Kerntechnik entschieden. Gut, US-Präsident hätte ich von Geburt nicht werden können – und den Papst habe ich auch verpasst.

Doch zurück zu obigem Tweet, der schnell viral ging und mir so unter die Augen kam. Der Kern: Am 12. Dezember 1952 kam es im Atomreaktor Chalk River NRX zu einer teilweisen Kernschmelze. Der Vorfall resultierte aus "mehreren Fehlentscheidungen der Betreiber", die den NRX-Reaktor mit einer Leistung von rund 30 Megawatt (MW) betrieben. Am 12. Dezember bereiteten sich die Arbeiter in der Anlage auf ein reaktorphysikalisches Experiment bei niedriger Leistung vor.

Ein Defekt im Mechanismus der NRX-Abschaltstangen in Verbindung mit menschlichen Fehlern führte jedoch zu einem vorübergehenden Verlust der Kontrolle über die Reaktorleistung, die einen exponentiellen Anstieg der Leistung auf 60 bis 90 MW zur Folge hatte. Es gab dann die teilweise Kernschmelze, und der Vorfall führte dazu, dass hunderttausende Liter radioaktives Wasser in den Reaktorkern flossen und den Reaktor schwer beschädigten.

Der obige Tweet des kanadischen Physikers Jeff Lundeen, Professor an der Universität Ottawa, erinnert daran, dass sich Jimmy Carter, der spätere Präsident der USA, nach der partiellen Kernschmelze im Kernkraftwerk Chalk River an den Aufräumarbeiten beteiligte.

Erinnern Sie sich an die allererste Kernschmelze der Welt? Als der US-Präsident, ein Experte für Atomphysik, sich heldenhaft in den Reaktor hinabließ und Ottawa, die kanadische Hauptstadt, rettete?


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Die New York Post hat das dann am 16. Dezember 2021 in diesem Artikel an diese Aktion erinnert.  Und News Week hat hier einen Faktencheck durchgeführt.

Nach Angaben der Historischen Gesellschaft von Ottawa musste der Reaktor abgeschaltet, zerlegt und ersetzt werden, wobei das Team auch verschüttetes radioaktives Material entfernen musste. Jimmy Carter, damals 28 Jahre und ein ausgebildeter Nuklearingenieur, der unter dem berühmten Admiral Hyman Rickover, dem Vater des Atomprogramms der Marine auf dem Atom-U-Boot "Sea Wolf", gearbeitet hatte, wurde gebeten, ein Team für die Säuberungsaktion zu leiten.

Aufgrund der starken Strahlung konnten sich Carter und sein Team nur etwa neunzig Sekunden am Kern aufhalten. Vor der Operation, bei der sie in den Kern hinabgelassen wurden, wurde auf einem nahe gelegenen Tennisplatz eine exakte Nachbildung des Reaktors aufgebaut, an der Carter und seine Männer die Reinigung und Reparatur übten.

Carter beschrieb die Operation in seinem Buch "Why Not the Best?", das er während seiner Präsidentschaftskandidatur 1976 veröffentlichte. Nach einer Übung im Reaktor-Duplikat wurden die Leute des Reinigungsteams für die 90 Sekunden in den Reaktorkern herabgelassen, um die jeweilige Schraube zu entfernen. Carter erinnert sich:

Jedes Mal, wenn es unseren Männern gelang, einen Bolzen oder eine Armatur aus dem Reaktorkern zu entfernen, wurde das entsprechende Teil am Modell entfernt.

Der Reaktorkern befand sich unter der Erde und war von starker Radioaktivität umgeben. Selbst mit Schutzkleidung würde jeder von uns bei einer Exposition von nur neunzig Sekunden die maximal zulässige Dosis aufnehmen, so dass wir diese begrenzte Zeit optimal nutzen mussten. Der Grenzwert für die Strahlenabsorption war in den frühen 1950er Jahren etwa tausendmal höher als sechzig Jahre später.

Carter sagte, dass sein Urin noch sechs Monate nach den Aufräumarbeiten als radioaktiv getestet wurde und dass dies seine Gesundheit für den Rest seines Lebens beeinträchtigte. Der wiederaufgebaute NRX-Reaktor wurde zwei Jahre nach der Kernschmelze wieder in Betrieb genommen, bevor er im März 1993 endgültig abgeschaltet wurde. Der am 1. Oktober 1924 geborene Jimmy Carter ist mit 97 Jahren der älteste lebende Ex-US-Präsident und hat von allen bisherigen US-amerikanischen Präsidenten das höchste Lebensalter erreicht. Starke Leistung – und mir war nur der "Erdnuss-Farmer" im medialen Gedächtnis geblieben.


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