Die letzten drei Atomkraftwerke (Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg das Kernkraftwerk Emsland in Niedersachsensen) gehen zum 31. Dezember 2022 geplant vom Netz (vereinbart im Ausstiegsbeschluss von 2011). Angesichts des Ukraine-Konflikts und der unsicheren Lage bei der Gasversorgung ist ja eine politische Diskussion über eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen drei Atomkraftwerke aufgeflammt. Gerne wird auch darauf verwiesen, dass andere Länder neue Atomkraftwerke betreiben und insbesondere Frankreich gut da steht. Aber ist eine Verlängerung der Laufzeit überhaupt möglich und wie sinnvoll ist dieser Ansatz überhaupt, bzw. hilft eine Verlängerung Deutschland bei der Gasversorgung? Hier einige Informationen, die mir die Tage unter die Augen gekommen sind, zur eigenen Einordnung.
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Eine Prüfung im Frühjahr 2022
Robert Habeck hatte die Prüfung, ob eine Laufzeitverlängerung möglich und sinnvoll ist, ja bereits im Frühjahr 2022 durchführen lassen – die Details aus den Gutachten kenne ich nicht, summarisch lautete die Erklärung Habecks aber: Es gibt technische und juristische Probleme bei einer Laufzeitverlängerung. Unter dem Strich hilft eine Verlängerung auch nicht wirklich, da lediglich 1,5% der Energie für Deutschland aus Atomkraftwerken kommt. Damit hätte die Diskussion eigentlich erledigt sein können.
EU: Atomstrom und Erdgas nachhaltig
Das Europaparlament hat zum 6. Juli 2023 die sogenannten Taxonomie-Regeln für den Finanzmarkt verabschiedet (siehe diesen Tagesschau-Bericht), in denen Investitionen in Erdgas und Atomkraft unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig einzustufen sind. Die Taxonomie ist ein Klassifikationssystem, das private Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten lenken und so den Kampf gegen den Klimawandel unterstützen soll.
Dieser Beschluss ist höchst umstritten, speziell in Bezug auf Atomkraft, und auch Erdgas wird zur Energieerzeugung nicht als "nachhaltig" angesehen. Für mich ist es fraglich, ob die Finanzindustrie entsprechende Fonds auflegt und ob Investoren (Institutionen und Private) dort wirklich investieren.
Ich verweise an dieser Stelle schlicht auf den Kommentar Ökosiegel für Atom und Gas: Das Europaparlament macht einen schweren Fehler von Damir Fras beim Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Aus meiner Sicht ist das Ganze mal wieder ein politischer Kuhhandel innerhalb der EU, da Frankreich (nach meiner Einschätzung) die Gelder für seine siechende Atomindustrie benötigt).
Ergänzung: Gerade auf Twitter eine Übersicht gesehen, welche Länder von Atomstrom abhängen. Frankreich: 69%, Ukraine: 55%, Slowakei: 52,3 Prozent, und auch Belgien: 50,8 Prozent. In Deutschland war 2021 die Kernenergie für 11% der Stromerzeugung verantwortlich.
Frankreich und die Atom-Hypothek
Frankreich setzt, so entsprechende Presseberichte, voll auf Atomstrom und will neue Atommeiler bauen. Sieht auf den ersten Blick gut aus, aber die Tücken liegen im Detail. Mit der Atom-Lastigkeit hat Frankreich sich enorme technische und finanzielle Probleme eingeheimst.
Ich verlinke mal auf den Beitrag Frankreich droht "Katastrophe" bei der Stromversorgung der Kollegen vom April 2022. Die maroden Atomkraftwerke sorgen immer wieder dafür, dass Frankreich nicht genügend Atomstrom bereitstellen kann und Strom aus dem europäischen Verbundnetz zukaufen muss. Zitat aus dem Artikel:
Das Land mit seinem altersschwachen Atompark hängt wieder einmal am europäischen Stromnetz. Fast die Hälfte aller Atommeiler sind aus verschiedensten Gründen nicht betriebsbereit. Am frühen Sonntag musste Frankreich wieder etwa sieben Gigawatt von den Nachbarn ziehen, also etwa die Strommenge, die sieben Atommeiler liefern würden.
[…]
Die Lage in Frankreich spitzt sich seit Jahren zu, ohne dass die Regierung die notwendigen Maßnahmen ergreift. Der Atompark wird immer älter. Uralte Atommeiler müssen, wie am Oberrhein in Fessenheim, abgeschaltet werden. Ersatz in dem Land, das sich weiter in der Atom-Sackgasse verrennt, statt auf erneuerbare Energien zu setzen, ist nicht in Sicht.
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Das Ganze jetzt als Erfolgsgeschichte zu verkaufen, wie man gelegentlich mit "Hinweis auf das Atomstromland Frankreich" als Argument hören kann, ist unter diesem Aspekt in meinen Augen abenteuerlich. Gerade gab es die Meldung, dass der Stromkonzern EDF (der viele Reaktoren betreibt) wieder komplett vom Staat übernommen werden soll.
Und es gibt noch einen Fundsplitter aus dieser Woche. Die Kollegen von heise berichten im Artikel Deutschland produziert mehr Strom aus Erneuerbaren – Frankreich importiert ihn, dass Frankreich extreme Probleme mit der Stromversorgung hat, trotz oder wegen Atomstrom. Man kauft Strom aus Wind- und Solarkraft aus Deutschland zu.
Wenn dann der französische Politiker und EU-Kommissar Thierry Breton Deutschland "im Interesse Europas" dazu aufruft, die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, ist das bestenfalls komisch und hinterlässt ein "Geschmäckle".
Deutsche Laufzeitverlängerung: Expertenaussage
Jetzt sind die obigen Ausführungen mit Verlinkungen auf Presseartikel die eine Sache, die Aussagen zur Laufzeitverlängerung von Minister Habeck auf der anderen Seite noch eine weitere Sache. Zufällig bin ich die Tage über nachfolgenden Tweet von Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme (HTW Berlin), Experte für Erneuerbare Energien, Energiewende, Klimaschutz, gestoßen, der sich genau mit dieser Fragestellung befasst.
Der Artikel ist auf Web.de nachzulesen. Speziell Bayerns Ministerpräsident Söder trommelt ja für Atomkraft – und Quaschning verweist darauf, dass genau dieser Ministerpräsident sowohl die Energiewende behindert und voll auf Gas als Energieträger gesetzt hat. Die Schlüsse muss in diesem Kontext jeder selbst ziehen.
In der Sache an sich gilt: Die Betreiber der Atomkraftwerke winken in Bezug auf eine Laufzeitverlängerung ab. Die Arbeiten für die Stillegung laufen seit Jahren – daher sind notwendige Wartungsintervalle für einen sicheren Betrieb unterbrochen, Kernbrennstoff-Beschaffung eingestellt und Personal abgebaut worden. RWE wird bezüglich seines KKW im Emsland mit folgender Aussage zitiert:
Unser Kraftwerk in Emsland ist auf den Auslaufbetrieb zum Ende des Jahres ausgerichtet, zu dem Zeitpunkt wird der Brennstoff aufgebraucht sein. Ein Weiterbetrieb über den 31.12.2022 hinaus wäre mit hohen Hürden technischer als auch genehmigungsrechtlicher Natur verbunden.
Volker Quaschning von der HTW Berlin erläutert das in seinem Artikel auf Web.de etwas ausführlicher. Im Übrigen kommen die Kernbrennstoffe teilweise aus Russland (auch wenn Kasachstan als Ursprung genannt wird). Neben dem Argument der Sicherheit, der genehmigungsrechtlichen Hürden für den Weiterbetrieb und der ungelösten Frage des Endlagers gibt es noch ein Killerargument gegen die Laufzeitverlängerung, welches mir bereits mehrfach unter die Augen kam:
Kernenergie decke derzeit lediglich 1,5 Prozent des Bedarfs am Gesamtenergieverbrauch.
Jetzt so zu tun, als ob eine Laufzeitverlängerung diese Energieprobleme im Öl- und Gasmarkt löst, ist eine Quatsch-Diskussion, die nur aus der Politik kommen kann. So findet Quaschning auch harte Worte für Ministerpräsident Söder und dessen Forderung:
Bayern hat sehr wenig für die Energiewende getan. Das fliegt Herrn Söder jetzt um die Ohren. Damit er nicht haftbar gemacht wird, fängt er so eine unsinnige Diskussion an.
Die Grafik zum Windkraftausbau in Bayern aus nachfolgendem Tweet zeigt dies sehr gut – von 2010 bis ca. 2018 stieg dieser Anteil, um dann in sich zusammen zu fallen. Grund ist die 10H-Abstandsregel, die den Bau von Windrädern verhinderte, weil kaum geeignete Flächen bereitstanden.
Ob es Wege gegeben hätte, den Abstand von Windkraftanlagen von Siedlungen "maßvoll" für deren Bewohner zu gestalten, kann ich ad hoc nicht beurteilen. Aber die 10H-Abstandsregel scheint ein Killer für den Windkraftausbau gewesen zu sein.
Die Aussage zum Vergleich mit der Nennleistung von Isar-2 würde ich nicht ziehen, da dieser etwas hinkt (ein KKW kann Grundlast fahren, eine Windturbine wird bei schwachem Wind weniger Leitung bringen). Zudem sollte man auch einen Blick in den Bund-Länder-Bericht zum Ausbau der Erneuerbaren Energien werfen, wo Bayern durch recht hohen Ausbau an Solarenergie ganz gut da steht. Bayern und Niedersachsen stehen da bei regenerativen Energien zum 31.12.2020 fast gleichauf.
Insgesamt muss man also viele Aspekte beachten. Der Experte sieht das Ganze trotzdem als politische "hätte, hätte, Fahrradkette-Diskussion", und für ihn steht ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke aus den oben erwähnten Gründen nicht ernsthaft zur Debatte. Wenn ich mir die Zahlen und Argumente so anschaue, sehe ich das genau so.
Ergänzung: Es wird in den Medien gerne von Atomkraftbefürwortern das Konzept der "neuen, Mini-Atomkraftwerke" ins Feld geführt, die all die vielen Nachteile heutiger Kernreaktoren vermeiden. Gut, mein Studium der Physikalischen Technik, in dem ich auch sehr viel Kerntechnik-Vorleseungen gehört habe (es gab in Jülich damals auch ein Studienfach Kerntechnik, welches ich mangels langfristiger Beschäftigungsaussichten 1976 nicht gewählt habe) liegt viele Jahre zurück. Wenn ich mir die vermeintlichen Wunderkonzepte der neuen Reaktoren auf den Hochglanzfolien anschaue, und mal genauer prüfe, scheinen die Probleme, die vor 45 Jahren auftauchten, auch heute ungelöst.
Von dem Aspekt der radioaktiven Abfälle, die entstehen, ganz zu schweigen. In diesem Kontext ist mir zufällig die Tage noch ein Artikel Studie: Kleine Atomreaktoren verursachen mehr radioaktiven Müll als große unter die Augen gekommen. Zur Wirtschaftlichkeit solcher Mini-Reaktoren habe ich aktuell keine Daten, gehe aber davon aus, dass die Wirtschaftlichkeit mit der Reaktorgröße steigt. Ich erinnere mich, als junger Ingenieur Anfang der 80er Jahre für meine damaligen Chefs "Wirtschaftlichkeitsberechnungen für Atomstrom" in Tabellenkalkulationsmodellen gerechnet zu haben. Selbst mit geschönten Zahlen war Atomstrom teurer als Kohlestrom (CO2 spielte damals keine Rolle).
Das Fazit: Die heutigen Reaktoren sind die teuerste Art der Energieerzeugung, und dabei sind die Ewigkeitslasten für die sichere Entsorgung der radioaktiven Abfälle noch nicht eingepreist. Das wird der Steuerzahler tragen dürfen.
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Gute Zusammenfassung Günni. Hat mich angeregt mal ein bisschen generell zur zukünftigen Energieversorgung zu stöbern. Fazit; es wird schwierig. Ich habe das Gefühl, daß ohne generelles Umdenken der Menschheit in dieser Frage (und nicht nur in dieser) ein Desaster unausweichlich ist. Ist nur eine Frage der Zeit.
Speziell für Deutschland ist m. E. nach der effektive Ausbau mit Windrädern schwierig da wir einfach zu dicht besiedelt sind. Ich wollte ehrlich gesagt auch keinen Windpark in meiner unmittelbaren Umgebung.
Auf die Mischpoche, auch speziell unserer EU-Politiker-Clique, möchte ich garnicht eingehen. Das ist einfach nur enttäuschend. Was mich auch sehr beunruhigt ist, daß immer mehr dieser Politclowns ans Ruder kommen wodurch das ganze System immer instabiler wird.
…und der Bürger, der die Energiewende oft gern mitgestalten möchte, etwas tun möchte, dem wird sie gerade von den Großen wieder weggenommen, sonst verdienen sie ja nicht mehr an uns.
Stichwort PV-Förderung, Stichwort Balkonkraftwerke
Es ist grausig. Kein Wunder das die Wenigsten ihre Balkonkraftwerke anmelden.