Kannibalismus: "Leichenschmaus" bei den Nordeuropäern der Eiszeit

Neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft legen nahe, dass es beim Neandertaler und den eiszeitlichen Europäern so etwas wie Kannibalismus gegeben hat, bei dem Verstorbene verspeist statt begraben wurden.


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Bei Totenfeiern kennen wir noch den Leichenschmaus, wo Angehörige sich nach der Beerdigung bei Kaffee und Kuchen im Gasthaus oder im Trauerhaus treffen. Bei den Neandertalern und bei bestimmten Menschengruppen der Eiszeit könnte Kannibalismus  zur Entsorgung der Toten an der Tagesordnung gewesen sein – und der Begriff "Leichenschmaus" eine spezielle Bedeutung gehabt haben.

Wissenschaftler finden immer mehr Spuren an alten menschlichen Knochen, die auf  Schnittspuren hindeuten, die beim Abschaben des Fleischs entstanden sind. Das reicht von Neandertaler-Knochen bis zu Knochen von Frühmenschen. Wissenschaftler aus Großbritannien haben sich Knochen aus dem nördlichen und westlichen Europa aus dem Zeitraum vor 23.500 bis 13.500 Jahren vorgenommen.

In einem Artikel über Kannibalismus und Bestattung im späten Jungpaläolithikum beschreiben die britischen Wissenschaftler William Marsh und Silvia Bello vom Natural History Museum in London den Umgang der Eiszeitmenschen mit Verstorbenen.

Zwei Menschengruppen

Im späten Jungpaläolithikum gab es in Westeuropa zwei vorherrschende Kulturen (Magdalénien in Nordwesteuropa und Epigravettien in Südosteuropa), die sich weitgehend durch die von ihnen hergestellten Stein- und Knochenwerkzeuge unterschieden.

Belege für die epigravettische Kultur finden sich vor allem in Süd- und Osteuropa, wo die Toten mit Grabbeigaben in einer Weise bestattet wurden, die wir nach heutigen Maßstäben vielleicht als eher üblich ansehen würden.

Kannibalismus bei der Magdalénien-Kultur

Die Magdalénien-Kultur aus dem Nordwesten Europas ging dagegen anders vor. Sie verarbeiteten die Körper ihrer Toten, indem sie das Fleisch vom Leichnam entfernten, es aßen und in einigen Fällen die verbleibenden Knochen zu neuen Gegenständen verarbeiteten. So lautet die Kurzfassung des obigen Artikels, wobei die Wissenschaftler diese Schlussfolgerung nach der Untersuchung von Knochenmaterial aus der Eiszeit (vor 23.500 bis 13.500 Jahren) zogen. Denn sie haben Hinweise gefunden, die darauf hindeuten, dass Verstorbene aus der Gruppe der Magdalénien nicht bestattet, sondern aufgegessen wurden. Dieser englischsprachige Artikel enthält diverse Fotos entsprechender Funde.

Funde aus der Eiszeit


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Die Wissenschaftler deuten das Ganze als kulturelle Handlung, bei der Kannibalismus wohl eine weit verbreitete Bestattungspraxis zur Leichenentsorgung in der damaligen Kultur war. Das Ganze trat immer wieder an verschiedenen Orten auf bzw. konnte an Knochenresten nachgewiesen werden (siehe rote Punkte in der oben gezeigten Karte).

Das Verhalte sei zwar weit verbreitet gewesen, schreiben die Wissenschaftler, hielt aber nicht besonders lange. Stattdessen ging man gegen Ende des Paläolithikums dazu über, die Toten zu begraben (so, wie wir es heute kennen). Dieses Verhalten war im südlichen Mitteleuropa zu dieser Zeit weit verbreitet und wird einer zweiten eigenständigen Kultur, dem Epigravettien, zugeschrieben.

Mit der Zeit scheinen kannibalische Bestattungen auch bei den Magdaléniern fast ausgestorben zu sein, heißt es. Wobei es auch daran gelegen haben könnte, dass die Magdalénier durch Völkerwanderungen ausgetauscht wurden.

Zeit Online hat das Thema in diesem Artikel aufgegriffen und hält weitere Details bereit. Allerdings muss man die Aussagen der Wissenschaftler in Relation sehen: Von den untersuchten Fundstätten konnten nur bei jeder Vierten (insgesamt 15 Stätten) Hinweise auf solche Bestattungspraktiken gefunden werden. Und die Funde erstrecken sich über einen Zeitraum von 6.000 Jahren – irgendwie recht dürfte, um da von einem breiten Kannibalismus als Bestattungsritus zu sprechen. Es könnte also auch ganz anders gewesen sein.


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