Arztbriefe: Unverständlich und risikoreich

GesundheitDie Entlassungsberichte, allgemein als Arztbriefe bezeichnet, die Kliniken an Ärzte schreiben, sind häufig unstrukturiert, fehlerhaft und werden von den weiterbehandelnden Hausärzten als missverständlich erlebt. Und nun soll das alles noch in einer elektronischen Gesundheitsakte erfasst werden.


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Dass Arztbriefe wegen des medizinischen Fachvokabulars für Patienten unverständlich sind, dürften den meisten von uns bekannt sein. Aber auch die Ärzte habe so ihre Not mit den Arztbriefen der Kollegen. Ich habe im Familienkreis die Fälle erlebt, wo der Neurologe in der Praxis den Arztbrief bekam, drüber flog und ihm rausrutschte 'da haben die Kollegen aber wenig dokumentiert'. Dann griff er zum Hörer, um den Chefarzt der Station dieser Klinik anzurufen, um nachzufragen, ob diese oder jene Tests gemacht wurden. Scheiterte, weil die Person nicht greifbar war. Ein unnötiger Aufwand und riskant dazu, weil das Wissen der behandelnden Ärzte in der Klinik nicht an den zur Nachbehandlung zuständigen Arzt weiter geht.

Eine Studie zur Qualität von Arztbriefen

Um die Qualität von Arztbriefen beurteilen zu können, wurde eine Studie von den Linguisten Dr. Sascha Bechmann und Julia Riedel M.A. vom Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Düsseldorf in Zusammenarbeit mit deutschen Hausärzteverbänden durchgeführt.

197 Hausärzte wurden darin zu den häufigsten Problemen in Arztbriefen befragt. Die Studie offenbart, dass einheitliche Standards fehlen, mit denen Missverständnisse künftig vermieden werden können. Sie zeigt auch: Es mangelt bislang an systematischen Untersuchungen sowohl zur Lese- als auch zur Schreibpraxis deutscher Ärzte. Und sie lässt erkennen, dass Aufwand und Nutzen bei Arztbriefen oft in keinem Verhältnis stehen.

  • Ein Viertel der Hausärzte liest nicht selten mehr als zehn klinische Entlassungsbriefe pro Tag (im Mittel sind es drei bis zehn Briefe täglich). Das entspricht einer täglichen Lesedauer von bis zu 60 Minuten.
  • Auf Seiten der Klinikärzte ist der Aufwand noch höher – hier werden täglich bis zu drei Stunden mit dem Verfassen der Arztbriefe verbracht.

Der Aufwand führt auf beiden Seiten häufig nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Das Ergebnis der Studie lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Die Entlassungsberichte, die Kliniken an Ärzte schreiben, sind nicht nur häufig unstrukturiert und fehlerhaft. Sie werden von den weiterbehandelnden Hausärzten auch als missverständlich erlebt.

Der Doktor versteht es auch nicht mehr

Missverständliche Formulierungen in Arztbriefen bringen die Allgemeinmediziner „regelmäßig zur Verzweiflung", so Dr. Sascha Bechmann. Vor allem fachinterne Ausdrücke und unbekannte oder doppeldeutige Abkürzungen bieten unerwünschten Spielraum für Interpretationen. Die Studie zeigt: Vor allem nicht erklärte Abkürzungen sind problematisch.

  • 34 % der Befragten gaben an, dass unbekannte Abkürzungen häufig oder sehr häufig in Arztbriefen vorkommen.
  • Nur 1,5 % der Hausärzte mussten sich noch nicht damit auseinandersetzen.

Der klinische Entlassungsbrief soll in erster Linie eines gewährleisten: die verlustfreie und eindeutige Übermittlung therapierelevanter Informationen an den Hausarzt, der mit diesen Informationen eine angemessene, sichere Weiterbehandlung des Patienten gestalten soll.

Arzt
(Quelle: Pexels/Pixabay CC0 Lizenz)


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Bechmann: „Dass solche Dokumente keinen Spielraum für Interpretationen geben dürfen, liegt auf der Hand. Dennoch zeigen die Ergebnisse der Befragung, dass missverständliche und unvollständige Arztbriefe eher die Regel als die Ausnahme sind. 99 % der Befragten gaben an, dass die Qualität der Arztbriefe verbesserungswürdig sei. Nur 3,6 % der Befragten waren in ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn noch nicht mit missverständlichen Arztbriefen konfrontiert worden."

Nahezu alle Hausärzte gaben an, Arztbriefe in manchen Fällen nicht auf Anhieb zu verstehen. Für Hausärzte, die für die Weiterbehandlung auf unmissverständliche und eindeutige Patienteninformationen angewiesen sind, ist dieser Zustand nicht nur ärgerlich, sondern er kann auch schwerwiegende Folgen für die Behandlung des Patienten nach sich ziehen. So waren 88 % der Befragten der Meinung, dass unverständliche oder fehlerhafte Arztbriefe zu Behandlungsfehlern führen können.

Qualität der Entlassungsbrief stark verbesserungswürdig

Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, so die Studienautoren, dass die Qualität der klinischen Entlassungsbriefe stark verbesserungswürdig ist. Entscheidend sind dabei strukturelle und inhaltliche Standards, die bislang fehlen. Weniger entscheidend für das Verständnis sind Textlänge und formale Kriterien. Insbesondere vage Formulierungen sowie lange und komplizierte Sätze wurden als zentrale Quellen für Verständnisprobleme genannt.

Zudem ergab die Befragung, dass viele Arztbriefe durch schlechten Sprachstil und Rechtschreib- bzw. Grammatikfehler auffallen. Auch Floskeln und Wiederholungen sowie logische Fehler und fehlende Informationen wurden häufig von den Hausärzten bemängelt.

Vor allem diejenigen Textteile sind für Hausärzte von Bedeutung, die konkrete Handlungsempfehlungen enthalten. 99 % der Hausärzte bewerten die Entlassungsmedikation als wichtig oder sehr wichtig für die Weiterbehandlung des Patienten. Jedoch weisen eben diese häufig hohe Fehlerquoten auf. Die größten Fehlerquellen sind laut den Befragten die Entlassungsmedikation (von 76,6 % der Hausärzte ausgewählt), die Therapieempfehlungen (von 74,1 % ausgewählt) und die Epikrise (von 64,5 % ausgewählt).

Fast alle Befragten (99 %) geben an, schon einmal einen fehlerhaften Arztbrief erhalten zu haben. Ein Problem scheint dabei zu sein, dass die Informationen in den Briefen nicht zu den beigefügten Befunden passen.

Auch kritisierten die befragten Hausärzte, dass die Entlassungsbriefe häufig verschiedene Gliederungsstrukturen und Formate aufweisen, Informationen vergessen oder falsch gewichtet und wesentliche Therapieschritte nicht kommentiert werden. Zudem weisen die Briefe nicht selten inhaltliche und fachliche Fehler sowie Widersprüche auf und häufig werden zu viele irrelevante Informationen und Textbausteine ohne Interpretation aneinandergereiht.

Die Studie legt auch den Schluss nahe, dass die computergestützte Texterstellung fehleranfällig ist, wenn mit einfachen Textbausteinen gearbeitet wird. Hier wird die fehlende Passung an die individuelle Patientengeschichte kritisiert.

Unerfreulich für Patient und Arzt

Alles in allem keine guten Aussichten, weder vom Blickwinkel des Patienten, noch aus Sicht des behandelnden Arztes. Mich hat es es einerseits erschüttert, dass das Gesundheitswesen in Deutschland diesbezüglich nicht längst einen gewissen Standard etabliert hat. Andererseits habe ich bei Familienangehörigen und bei eigenen Arztbriefen gesehen, wie die abgefasst sind. Gerne werden die dann noch zugeklebt 'für den Arzt' überreicht, damit der Patient die nicht zu sehen bekommt.

Prinzipiell habe ich mir angewöhnt, die Briefe dann zu öffnen, eine Kopie anzufertigen und zumindest zu überfliegen. Oder ich fordere bei der Entlassung eine Kopie des Arztbriefes zur Kontrolle. In einigen Fällen wurden dann schon gravierende Fehler erkennbar, auf die der Arzt dann hingewiesen werden konnte.

Nur als Anmerkung: Das ist nicht mal böser Wille der Klinikärzte – das Personal in Pflege und die Ärzte sind meist willig und motiviert. Aber die stecken in einem Hamsterrad mit überbordender Bürokratie ohne sauberen Rahmen. Da fehlt dann oft die Zeit – und Zeitdruck lässt Raum für Fehler oder Kollateralschäden.

Ob die digitale Patientenakte es richten wird?

Das bringt mich zu einer anderen Baustelle. Gesundheitsminister Jens Spahn versucht ja die elektronische Gesundheitsakte durchzusetzen – ein Projekt, welches seit Jahrzehnten nicht in die Gänge kommt. Versprochen wird, dass Patient und Arzt alle Gesundheitsdaten an einer Stelle einsehen können (z.B. auf einem Smartphone oder verwaltet über eine zentrale Stelle). Einmal hege ich bisher wegen der Datensicherheit größte Bedenken – ich hatte das in den nachfolgenden Blog-Beiträgen drüben in meinem IT-Blog angesprochen.

Elektronische Patientenakte: Bär will Datenschutz schleifen
Datenschutz-GAU: Finger weg von der Gesundheits-App Vivy
Nächstes Sicherheitsdesaster bei Vivy-Gesundheits-App
Singapurs größter Gesundheitskonzern gehackt
Gesundheitswesen besonders anfällig für Hacker-Angriffe
Gesundheitsdaten ziehen Kriminelle besonders an
Datenleck: Old-School-'Hack' für Gesundheitskarte
Heartbleed-Lücke zum Klau der Gesundheitsdaten genutzt

Die unbedarften Akteure auf diesem Feld ziehen Kriminelle und Hacker magisch an. Obige Artikelliste nennt ja konkrete Fälle. Nun kommt noch ein gänzlich anderer Aspekt hinzu, den ich beim Verfassen der obigen Beiträge noch gar nicht auf dem Radar hatte. Wenn die Doctores das Zeugs schon nicht fehlerfrei, vollständig und eindeutig auf Papier bringen können, wie soll das denn elektronisch klappen?

Da sind ein paar 'Technik-Affen' unterwegs, die hoffen, dass die Weitergabe der Daten auf elektronischem Wegs Probleme behebt, die die Ärzte gar nicht haben. Nicht fehlende Arztbriefe und –Befunde sind das Problem, sondern deren Qualität. Und wenn ich die obige Studie lese, komme ich zur Erkenntnis, dass die Mediziner eh schon keine Zeit haben, einen simplen Arztbrief zu lesen. Wie sollen die sich dann in eine digitale Patientenakte mit zig Informationen vertiefen – immer mit dem Hintergedanken, das die darin abgespeicherten Informationen schlicht falsch oder veraltet sind? Wie ich die Ärzte kenne, werden die sich nicht auf vage Angaben verlassen, sondern eher der eigenen Diagnostik, die notfalls nochmals angestoßen wird, vertrauen.

Mich beschleicht das Gefühl, dass Gesundheitsminister Jens Spahn einer Fata Morgana hinterher läuft, die die Betroffenen keinen Deut weiter bringt. Aber ich mag mich täuschen und alles wird mit der elektronischen Patientenakte besser.


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4 Antworten zu Arztbriefe: Unverständlich und risikoreich

  1. 1ei sagt:

    D A N K E !!!!!!!!!!!!!!
    Passt genau zu meiner eigenen Erfahrung !

  2. Pater sagt:

    Dem kann auch ich aus langjähriger Erfahrung nur zustimmen.
    Das Bürokratiemonster trägt dazu seinen Anteil bei.

  3. nook sagt:

    "Fast alle Befragten (99 %) geben an, schon einmal einen fehlerhaften Arztbrief erhalten zu haben. Ein Problem scheint dabei zu sein, dass die Informationen in den Briefen nicht zu den beigefügten Befunden passen."

    Dazu meine Erfahrung:
    Im Entlassungsbericht nach einer Darm OP wird eine Lungenerkrankung attestiert.
    Telefonische Rückfrage: "Das habe ich nicht unterschrieben", antwortete der/dieVerantwortliche – da bleibt Dir die Spucke weg.

    Als Krönung oben drauf, ein Mitarbeiter sieht am PC während des Telefonats in die Akte: "Wegen der Lungensymptomatik wurde xy eingeliefert … ", keine Ahnung was da jetzt steht und wie der Lungenkranke weiter behandelt wird nach der offensichtlichen Vertauschung!

    Zum Glück hatte ich den Patientenbrief geöffnet!!

  4. Bernard sagt:

    "da sind ein paar 'Technik-Affen' unterwegs"

    Die mit dem Firlefanz viel, viel Geld verdienen. Keine Ahnung, was der Spahn davon hat.

    Wir öffnen die Briefe auch. Zur Kontrolle.

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