Braucht es Bergamo für einen harten Lockdown?

GesundheitNotfallmediziner schlagen seit Wochen Alarm, weil Politik und Öffentlichkeit nicht auf die steigenden COVID-19-Infektionen reagiert. "Wir rennen sehenden Auges ins Verderben", sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Professor Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen. „Wir müssen von den hohen Zahlen runter! Jetzt. Augenblicklich."


Anzeige

Bei den Medizinern liegen mit Sicherheit nicht irgendwelche Nerven blank, denn Intensivmediziner sind Menschen, die in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, ruhig bleiben. Aber so langsam regt sich bei ihnen absolutes Unverständnis. Und die Stimmen werden lauter, um politisch gehört zu werden. So sind die obigen Aussagen von Professor Gernot Marx zu verstehen. Und weiter:

Nur weil die Bevölkerung des Lockdowns müde ist, können wir nicht bei Inzidenzen von 125, einem R-Wert von 1,2 und exponentiell steigenden COVID-19-Patieten auf den Intensivstationen darüber nachdenken, wie sich weitere Lockerungen durchsetzen lassen. Zwei oder drei Wochen harten Lockdown – das lässt sich ab Montag über die Osterferien gut realisieren. Das wird zahlreiche Menschenleben retten und noch viel mehr vor lebenslangen Langzeitfolgen durch COVID bewahren. Portugal hat es vorgemacht. Erst harter Stopp. Und dann öffnen. Das hat super geklappt.

Deutschland braucht kein Bergamo oder Szenarien wie in New York mit Patienten auf dem Fußboden, die sich zu zweit ein Beatmungsgerät teilen müssen.

Intensivbetten: Es wird eng

Um die Kapazitäten der Intensivstationen genau im Blick zu haben, wurde bereits im vergangenen Frühjahr gemeinsam mit dem RKI das DIVI-Intensivregister aufgebaut. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache:

  • Derzeit sind noch 1.644 Betten für COVID-19-Patienten in ganz Deutschland frei.
  • Seit dem 10. März ist die Zahl dieser Patienten von 2.727 auf 3.448 (zum 28. März 20221) hochgeschnellt.

"Diese Zahl wird die kommenden zweieinhalb Wochen weiter exponentiell wachsen, egal was wir jetzt tun", weiß Professor Christian Karagiannidis, med.-wiss. Leiter des DIVI-Intensivregisters und Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim. „Bei mehr als 5.000 COVID-19-Patienten wird es wirklich langsam kritisch. Das heißt, es muss JETZT etwas passieren."

Die Bevölkerung hat gar nicht mitbekommen, wie knapp es war!

Auch sein Kollege, Professor Steffen Weber-Carstens, med.-wiss. Leiter des DIVI-Intensivregisters und Mitglied der erweiterten Klinikleitung der Klinik für operative Intensivmedizin an der Charité Berlin, gibt zu bedenken:

Die Bevölkerung hat zwischen Weihnachten und Anfang Januar, wo wir fast 6.000 COVID-Patienten versorgt haben, gar nicht mitbekommen, wie knapp es war. Zahlreiche Menschen wurden hier aus dem Osten oder der Mitte Deutschlands nach Norden geflogen. Ein Kraftakt, den wir geschafft haben – aber drei Monate später nicht gleich noch einmal brauchen.

Diese Woche hatte Weber-Carstens bereits die ersten Anfragen für überregionale Verlegungen auf dem Tisch. „Thüringen sieht gerade gar nicht gut aus!"

Wir steuern auf bis zu 6.800 COVID-19-Patienten auf Intensiv zu

Es gibt das DIVI-Prognosemodell, dass Karagiannidis und Weber-Carstens in den letzten Monaten gemeinsam mit dem Mathematiker Professor Andreas Schuppert, Leiter des Instituts für Computational Biomedicine an der RWTH Aachen, aufgebaut haben.


Werbung

DIVI-Prognosemodell
DIVI-Prognosemodell, Zum Vergrößern klicken

In obiger Grafik ist deutlich zu sehen, wie die Verläufe bei zu späten Reaktionen ausgehen. Das Modell zeigt den Intensivmedizinern sehr deutlich, dass es Zeit wird die Stimme noch lauter zu erheben. Karagiannidis dazu:

Wir kommen an einem harten Lockdown für etwa zwei, drei Wochen gar nicht vorbei. Die Frage ist nur, wann dieser ausgelöst wird. Unser Modell zeigt mögliche Verläufe. Bis auf mehr als 4.500 Patienten werden wir auf jeden Fall wieder hochgehen. Das ist unvermeidbar.

Wird dann ein harter Lockdown beschlossen, schaffen wir es knapp über 5.000 die Kurve wieder zu senken. Warten wir noch länger, und stoppen erst bei einer Inzidenz von 300 Ende April oder Anfang Mai, werden wir mehr als 6.000 Menschen mit COVID-19 auf Intensiv stehen. Ob wir das packen, wage ich zu bezweifeln.

Die Intensivmediziner dazu:  Und nein, dies sei keine Schwarzmalerei. Harter Lockdown über Ostern – weil die Zeit drängt. DIVI-Präsident Marx appelliert deshalb eindringlich an Politik und Bevölkerung:

Keiner will einen harten Lockdown. Wir alle wünschen uns unser altes Leben zurück. Aber wir sind gerade in der wohl kritischsten und entscheidendsten Phase der Pandemie. Harter Lockdown über die Osterferien – weil uns die britische Mutation keine andere Wahl lässt. Und dann können wir bei deutlich niedrigeren Inzidenzen mit Schnelltests, PCR-Tests, Impfungen und Apps wieder öffentliches Leben zulassen.

Jeder Patient, der nicht auf die Intensivstation müsse, sei die Anstrengung wert, weiß Marx mit Blick in die Klinik. „Unsere Patienten sind gezeichnet fürs Leben. Und wie es den zahlreichen Long-COVID-Patienten gehen wird, ist noch absolut nicht absehbar." Ein Zögern sei jetzt nicht zu verzeihen!

Covidioten und Ministerpräsidenten

Nun haben wir eine gewisse Menge an Covidioten, die ohne Masken gegen Corona-Beschränkungen demonstrieren . Und wir haben eine vergleichbare Klientel unter unseren Ministerpräsidenten, die wider bessere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht handeln und im Gegenteil, die im März 2021 in der Runde mit Bundeskanzlerin Merkel gefasste Beschlüsse zu harten Maßnahmen bei bestimmten Inzidenzgrenzwerten ignorieren, über Öffnungen fabulieren und sehenden Auges das Land auf das obige Szenario zusteuern.

Jeder hat es selbst in der Hand

Daher: Reduzieren sie zu Ostern und möglichst danach die persönlichen Kontakte auf ein Minium. Befolgen Sie die AHA-Regeln (Abstand halten – Hygiene beachten – im Alltag Maske tragen). Helfen Sie mit, die Kontrolle über SARS-CoV-2 zurück zu gewinnen. Jeder hat es in der Hand, seinen Teil dazu beizutragen.


Cookies blockieren entzieht uns die Finanzierung: Cookie-Einstellungen

Anzeige


Dieser Beitrag wurde unter Gesundheit abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

14 Antworten zu Braucht es Bergamo für einen harten Lockdown?

  1. Andreas B. SH sagt:

    Sehe ich genau so! Man muss das Ding im Ganzen durchziehen.
    Hier im Landkreis Dithmarschen liegen wir stabil bei einer 7-Tages-Inzidenz von unter 40, aktuell nur 36 (wg. Feiertag?), schlicht weil wirklich alle sich tagtäglich strikt an die Regeln halten. Das ist ein mühsamer Teilerfolg. Aber den wird man gegen den Bundestrend auf die Dauer nicht halten können, denn rund um Hamburg sieht's schon anders aus.
    Als Lehrfilm, wie man in Krisensituationen Entscheidungsfindung strukturiert, kann ich der MP-Runde nur empfehlen: Mal Apollo 13 gucken. – 1. klare Verantwortlichkeiten – und 2. wer nix weiß, hält mal die Gosch …

  2. Andreas B. SH sagt:

    Wichtiges zur Impftechnik:
    Seltsamerweise bleibt die deutsche Stiko immer noch bei ihrer Empfehlung von 2017, auf die Aspiration (Zurückziehen des Spritzenstempels) vor der Injektion zu verzichten. – Man hat das früher aber immer so gemacht, um ganz sicher auszuschließen, dass man ein Blutgefäß punktiert hat. (Kommt beim Aspirieren Blut, ist sofort abzubrechen und die Injektion zu verwerfen.) So habe ich es auch gelernt. – Und übrigens wurde neulich Bundespräsident Steinmeier, wie gut zu sehen war, nach dieser bewährten Technik geimpft.

    Wo kommt also die Empfehlung der Stiko her? Aus der Pädiatrie! – Man nimmt dünne Nadeln, aspiriert nicht, und dann tut es bisschen weniger weh. Das ist die ganze Begründung. (Angesichts der jetzt zu impfenden Altersgruppe ziemlich lächerlich.)

    Nun wird es aber interessant, wenn dieselbe Stiko für die Covid-Impfung einerseits vorschreibt, der Impfstoff sei (so wörtlich) strikt intramuskulär (!) zu verabreichen, aber dennoch bei ihrer Richtlinie für die Injektionstechnik bleibt.
    Man hat zwar erste molkularbiologische Erkenntnisse, was wohl bei den aufgetretenen Thrombosen durch AstraZenica vor sich geht. – Aber ob das Ganze vielleicht überhaupt erst dadurch passiert, dass in ein Blutgefäß injiziert wird, diese Frage stellt man sich in Deutschland scheint's gar nicht.

    Anders in Dänemark! Dort hat das SSI (Statens Serum Institut) sofort am 18.03.2021 seine Empfehlungen geändert und schreibt (in einem Kasten deutlich hervorgehoben):

    "Normalerweise muss man vor der Injektion eines Impfstoffs nicht aspirieren. Im Zusammenhang mit der Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs zwischen der Injektion eines Covid-19-Impfstoffs von AstraZeneca und dem Auftreten seltener, aber schwerer Fälle von Blutgerinnseln und Blutungen empfiehlt SSI vorerst vorsorglich zu aspirieren vor der Verabreichung. Dies gilt für alle zugelassenen Covid-19-Impfstoffe, sowohl zur Injektion in den Deltamuskel als auch für die alternative Möglichkeit der Injektion in den Vastus-lateralen Muskel, wenn eine Injektion in den Deltamuskel nicht möglich ist."

    Für mich heißt das, ich jedenfalls werde bei der Impfung darauf bestehen, dass das nach alter Schule gemacht wird. (Wahrscheinlich wird man dann besserwisserisch abgemeiert, aber ohne setze ich mich nicht erst hin. Was ich so an Massenabfertigung im TV gesehen habe, lag hinsichtlich der Punktionstechnik auch eher zwischen Dart-Meisterschaft und Wochenend-Heimwerker mit Bohrhammer.)

    Und zu Stiko und RKI fällt mir eh weiter nichts ein …

  3. Andreas B. SH sagt:

    Die Sache wird auch im Deutschen Ärzteblatt hier diskutiert:
    Verzicht auf Aspiration bei i.m. Injektion?
    https://www.aerzteblatt.de/studieren/forum/139505

    • Mance sagt:

      Ich kann nicht nachvollziehen wie man hier über ja od. nein noch groß streiten soll. Sicherheit geht vor, zumal der Schritt absolut keine nachteiligen Auswirkungen hat. Das Argument, weniger schmerzhaft, ist m. E. einfach nur lächerlich und opportunistisch (im Sinne von angepaßt).

      • Andreas B. SH sagt:

        Man findet im Netz auch nach wie vor noch so etwas hier:

        Professor Dr. Tomas Jelinek vom Berliner Centrum für Reise- und Tropenmedizin (Medical Tribune, 06.07.2017)

        "Die Verwendung einer dünnen Nadel macht die Aspiration vor der Injektion überflüssig, erklärte der Experte. Auch wenn ein kleines Blutgefäß perforiert wird und dadurch größere Mengen des Impfstoffs i.v. in den Kreislauf gelangen, sei das i.d.R. kein Problem."

        Das sind bei uns die Meinungsführer! … Ich habe mal das krasseste diametral entgegengesetzte Beispiel herausgepickt, wo die Sache sogar explizit angesprochen wird. (Ob der das auch jetzt noch so sieht und für die Covid-Impfung aufrecht erhalten will, weiß ich nicht. Der Artikel ist von 2017.)

      • Andreas B. SH sagt:

        Hier
        https://ducotedelascience.org/evenements-thrombotiques-apres-le-vaccin-astrazeneca-et-si-cetait-lie-a-une-reponse-immunitaire-discordante/
        gibt es einen erstklassigen wiss. Artikel (frz.) über das Ganze. – Ich halte die Nonchalence, mit der man die Sache laufen lässt, für höchst fahrlässig. Und es könnte ein Riesenskandal werden.
        Weder im Drosten- (NDR), noch im Kekulé-Podcast (MDR), denen ich geschrieben habe, wurde es bisher aufgegriffen, obwohl es wichtig ist und sofortiger Klärung bedarf. Leider …

  4. Andreas B. SH sagt:

    Fundsache
    Es gibt eine Anfrage an das Robert Koch-Institut vom 23.03.2021

    Betr.: Sinusvenenthrombosen (CSVT) nach Astrezeneca Covid-19-Impfung?
    Frage: "Könnte für das Auftreten einer CSVT eine "versehentliche" intravasale Injektion des Impfstoffes verantwortlich sein?
    Welche Folgen haben o.g. falsche Injektionen?"

    https://fragdenstaat.de/a/216404
    Status: noch unbeantwortet (10.04.2021)
    Bis heute also nur die Eingangsbestätigung, man habe grade so viel zu tun …

    • Andreas B. SH sagt:

      Oh, das RKI ist sogar noch dreister!
      Ich habe bei der Anfrage, die ich fand, nämlich übersehen, dass es weiter unten sogar eine pampige, unverschämte Antwort gibt. Da steht, das sei kein legitimes Auskunftsersuchen, sondern eine "allgemeine Bürgeranfrage", auf die sie dort weiter einzugehen gar nicht nötig hätten. – Mann, haste Töne!? Das ist schon stark …
      OK, dann würde ich mal so sagen: Die Richtlinie Verzicht auf Aspiration behalten sie bei, früh gewarnt worden sind sie auch. Wenn sich also letztlich herausstellt, dass es genau daran lag, dann müssen endlich Köpfe rollen.

Schreibe einen Kommentar zu Andreas B. SH Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert