Es ist eine Sensation und vermutlich das älteste Großbauwerk in Europa: Forschende haben eine 971 Meter lange, aus Steinen bestehende Mauer am Grund der Mecklenburger Bucht entdeckt. Es handelt sich bei der Steinreihe um Spuren der Eiszeitjäger, die dort vor 10.000 Jahren lebten, weil damals der Meeresspiegel noch niedriger lag.
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Die Gruppe um Jacob Geersen vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) und Marcel Bradtmöller von der Universität Rostock sind rund zehn Kilometer nordwestlich der Stadt Rerik in etwa 21 Metern Tiefe, auf dem Grund der Ostsee auf eine ungewöhnliche Steinreihe gestoßen. Die Steinreihe besteht aus fast 1.700 Steinen, ist 971 Meter lang, bis zu zwei Meter breit und meist unter einem Meter hoch, wie sie hier schreiben. Die Struktur wurde vermutlich vor mehr als 10.000 Jahren von Jägern und Sammlern angelegt. Der Bereich der Mauer wurde vor etwa 8.500 Jahren von der Ostsee überflutet.
Steinmauer, Zeichnung; Quelle: Michał Grabowski/Leibniz-Institut für Ostseeforschung
Entdeckt wurde der Blinkerwall zufällig im September 2021 bei Kartierungen. Die 1.673 Steine des Walls haben ein Volumen von fast 53 Kubikmetern und wiegen zusammen mehr als 142 Tonnen. Die meisten sind deutlich unter 100 Kilogramm schwer. Etwas Vergleichbares gebe es in Europa nicht, schreibt die Gruppe.
Für die Rentier-Jagd
Der sogenannte Blinkerwall könnte den Menschen geholfen haben, Rentiere zu erbeuten, vermutet das Forschungsteam im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).
Natürliche Ursachen für die Anlage – etwa einen Tsunami, sich zurückziehende Gletscher oder Strömungen unter Wasser – hält das Team für äußerst unwahrscheinlich. Auch andere menschliche Eingriffe als Ursache seien unplausibel.
"Die Untersuchungen haben bestätigt, dass eine natürliche Entstehung ebenso unwahrscheinlich ist wie eine Errichtung in moderner Zeit, etwa durch Baumaßnahmen zur Verlegung von Seekabeln oder Steinfischerei. Dafür sind die Steine zu planvoll und regelmäßig angeordnet", erläutert Jacob Geersen, Erstautor der nun in der Zeitschrift PNAS veröffentlichten Studie.
Das Team glaubt, dass Wildbeuter-Gruppen die Anlage zur Jagd nach Rentieren nutzten. "Es wird angenommen, dass in dieser Zeit nicht mehr als 5.000 Menschen in ganz Nordeuropa lebten. Ein Hauptnahrungsmittel dieser Gruppen waren Rentiere, die im jahreszeitlichen Rhythmus in Herden durch die vegetationsarme nacheiszeitliche Landschaft zogen. Wahrscheinlich diente der Wall dazu, die Rentiere am Rande eines Sees in die Enge zu treiben, so dass sie von den steinzeitlichen Jägern mit Jagdwaffen erlegt werden konnten", erläutert Marcel Bradtmöller von der Universität Rostock. Direkt datiert wurde die Struktur nicht, aber vor 9.800 Jahren war die Region bewaldet und Rentiere zogen seltener vorbei – da hätte eine solche Anlage keinen Sinn mehr ergeben.
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Da vor etwa 11.000 Jahren, als das Klima wärmer wurde und sich Wälder ausbreiteten, mit den letzten Rentieren auch die letzten wandernden Herdentiere aus unseren Breiten verschwanden, dürfte die Steinmauer nicht nach diesem Zeitpunkt errichtet worden sein. Die Steinmauer wäre damit das älteste jemals in der Ostsee entdeckte menschliche Bauwerk.
"Zwar sind in der Wismarbucht und entlang der Küsten Mecklenburg-Vorpommerns zahlreiche gut erhaltene archäologische Fundstellen aus der Steinzeit bekannt, diese liegen aber in deutlich geringeren Wassertiefen und datieren meist in die Mittel- und Jungsteinzeit (ca. 7.000 – 2.500 v. Chr.)", erklärt Jens Auer vom Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg- Vorpommern, der an der Erforschung und Beprobung vieler dieser Fundstellen beteiligt war.
Mithilfe des Lumineszenzverfahrens soll versucht werden, die Steinmauer zu datieren. Ein Beitrag findet sich auch in spektrum.de.
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